Es ist ein lauer Sommerabend am Bodensee, der sich Hans-Peter Walser ins Gedächtnis gebrannt hat. "Ich saß mit meiner Frau und einem befreundeten Paar auf dem Balkon - und dann kam gegen kurz nach halb zwölf nur die Info Flugzeugabsturz, mehr nicht", sagt der damalige Polizeidirektor in Friedrichshafen.
"Abstürze von Kleinflugzeugen hatten wir in der Region ja bedauerlicherweise immer wieder gehabt." Das Ausmaß des Unglücks in Überlingen am 1. Juli 2002 kann Walser später im Polizeifahrzeug auf dem Weg zum Einsatzort erahnen. "Da habe ich über Funk gehört, wie einer gesagt hat: Es regnet Leichen vom Himmel!"
Erst im Laufe der Nacht wird die Dimension der Tragödie deutlich. In mehr als elf Kilometern Höhe ist über dem Bodensee ein Passagierflugzeug der Bashkirian Airlines mit einer Frachtmaschine von DHL zusammengestoßen.
Alle 71 Insassen sterben, Wrackteile und Leichen fallen in der Region Überlingen auf einer Fläche von mehreren Quadratkilometern vom Himmel. "Als wir die Information zur Kollision definitiv von der Schweizer Flugsicherung Skyguide hatten, war klar, dass das nach menschlichem Ermessen niemand überlebt haben kann", sagt Walser.
Mängel und Fehler bei Skyguide
Das Unglaubliche in dem Unglück: Die Stadt Überlingen, ihre Ortsteile und der Bodensee als wichtige Trinkwasserquelle bleiben verschont, am Boden gibt es keine Verletzten. Viele Anwohner helfen stattdessen den Suchkräften, versorgen sie zum Beispiel mit Essen und Trinken.
Später stellt sich heraus, dass technische Mängel und menschliche Fehler bei Skyguide das Unglück verursacht haben.
Im Zürcher Kontrollzentrum sitzt in diesem Moment ein Fluglotse, der allein für den Luftraum über Süddeutschland zuständig ist und dessen Radar und Telefon wegen Wartungsarbeiten nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Dass ein Unglück droht, bemerkt der Mann zu spät.
Zwar hatten die Piloten der russischen Maschine auf Anweisung des Lotsen noch einen Sinkflug eingeleitet. Das Antikollisionswarngerät TCAS hatte ihn jedoch zum Steigflug aufgefordert.
Der Lotse, der den Fehler machte, wird 2004 von einem Hinterbliebenen erstochen. Der Russe hatte bei dem Absturz Frau und Kinder verloren.
Die Minuten bis zur Kollision
Die deutsche Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig hat die letzten Minuten und Sekunden der Flugzeugkatastrophe von Überlingen am 1. Juli 2002 dokumentiert:
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bis 23.30 Uhr: Eine russische Tupolew-154 fliegt mit 69 Menschen an Bord auf dem Weg von Moskau nach Barcelona über Süddeutschland. Von Süden nähert sich eine Boeing 757 des Kurierdiensts DHL mit zwei Piloten, die nach einem Zwischenstopp im italienischen Bergamo Richtung Brüssel fliegt. Die Boeing meldet sich um 23.21 Uhr, die Tupolew um 23.30 Uhr bei der Schweizer Flugsicherung Skyguide in Zürich an.
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23.34 Uhr und 42 Sekunden: Die Traffic Alert and Collision Avoidance Systeme (TCAS) in beiden Maschinen schlagen Alarm und melden "Traffic" auf Kollisionskurs.
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23.34 Uhr und 49 Sekunden: Der zuständige Fluglotse fordert den Piloten der Tupolew auf, seine Flughöhe zu verringern, da er sich auf Kollisionskurs mit der Boeing befindet.
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23.34 Uhr und 56 Sekunden: Das TCAS der Boeing erteilt Kommando zum Sinkflug, was die Besatzung sofort befolgt. Gleichzeitig leiten die Piloten der Tupolew den Sinkflug ein. Von ihrem TCAS erhält die Tupolew dagegen das Kommando, zu steigen.
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23.35 Uhr und 3 Sekunden: Der Lotse wiederholt die Anweisung an die Tupolew, schnell zu sinken. Die Anweisung wird von der Besatzung sofort bestätigt. Unmittelbar darauf gibt der Lotse ohne bestimmten Adresscode bekannt, dass sich anderer Flugverkehr in der "Zwei-Uhr-Position" befinde. Der rechts sitzende Pilot weiß somit nicht sofort, aus welcher Richtung Gefahr droht. "Wo ist es?", fragt er. Der Copilot antwortet: "Hier, auf der linken Seite!"
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23.35 Uhr und 10 Sekunden: Die Besatzung der Boeing erhält von ihrem TCAS das Kommando, den Sinkflug zu verstärken.
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23.35 Uhr und 19 Sekunden: Die Besatzung der Boeing meldet dem Lotsen, dass sie den Sinkflug eingeleitet habe.
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23.35 Uhr und 24 Sekunden: Die Tupolew erhält von ihrem bordeigenen Warnsystem das Kommando, den Steigflug zu verstärken.
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23.35 Uhr und 32 Sekunden: Beide Flugzeuge kollidieren in einer Höhe von knapp 35.000 Fuß. Die Boeing verliert einen Großteil ihres Seitenleitwerks und wird beim Aufprall auf dem Boden nördlich von Überlingen völlig zerstört. Die Tupolew zerbricht noch in der Luft in mehrere Teile.
Sicherheitsempfehlungen noch nicht alle umgesetzt
Nach dem Flugzeugunglück von Überlingen haben Piloten und Fluglotsen gelernt. Neue Sicherheitsempfehlungen der Flugunfallermittler nach dem Unglück sind im Großen und Ganzen umgesetzt worden. So waren die Anweisungen in den Handbüchern zum Verhalten im Falle einer TCAS-Warnung zuvor nicht eindeutig und zum Teil widersprüchlich.
Die Piloten der Bashkirian Airlines hatten die Warnsignale ihres Kollisionswarngeräts missachtet, das einen Zusammenstoß in letzter Minute hätte vermeiden können. Sie vertrauten lieber den gegenteiligen Befehlen des abgelenkten Lotsen im Zürcher Kontrollzentrum.
Heute lauten die internationalen Regelungen, dass die Piloten unverzüglich den Anweisungen des TCAS folgen müssen, wenn ein anderes Flugzeug gefährlich nahe kommt. Die Meinung der Experten in diesem Fall war eindeutig: Piloten haben im Krisenfall keine bessere Entscheidungsgrundlage als das TCAS.
Noch immer nicht umgesetzt worden ist dagegen die BFU-Sicherheitsempfehlung, die Kommunikation zwischen Flugzeug und Flugsicherung zu automatisieren. Wenn das bordeigene TCAS Alarm anschlägt, sollte dies mit einer automatisierten Datenübertragung an den zuständigen Fluglotsen übermittelt werden, so die Idee der Ermittler. So würde der Lotse automatisch erfahren, dass es am Himmel eine gefährliche Annäherung gibt. Dann sollte nur noch das Warngerät, nicht mehr der Fluglotse das Sagen haben.
Es gibt für den Lotsen allerdings nach wie vor keine Anzeige, wenn ein TCAS ausschlägt. Piloten müssen allerdings mittlerweile eine TCAS RA (Resolution Advisory) dem Lotsen mitteilen. Dann gilt, dass der Lotse keine weitere Anweisung geben darf, bis die Flugzeug-Crew die Lösung des Konflikts mitteilt.
Die BFU-Empfehlung wurde aber nicht einfach ignoriert, erläutert die Deutsche Flugsicherung dazu – vielmehr hätten sich zahlreiche internationale Arbeitsgruppen intensiv mit dem BFU-Vorschlag befasst. Einigkeit bestand letztendlich darüber, dass an dieser Stelle die Ansage der Piloten, die die Verantwortung tragen, mehr zählt als die Anweisung eines technischen Systems.
In einer weiteren Sicherheitsempfehlung hatte die BFU zur Verbesserung der Untersuchung künftiger Unfälle und Störungen zudem vorgeschlagen, dass Flugsicherungsstellen zusätzlich zu den gegenwärtigen Vorschriften mit Aufzeichnungsanlagen ausgerüstet sind, mit denen Hintergrundgespräche und -geräusche an den Lotsenarbeitsplätzen, vergleichbar mit "Area Microphone"-Systemen im Cockpit, aufgezeichnet werden.
Die Schweizer Skyguide hat ein derartiges System bereits installiert. In Deutschland ist das Thema "Raumtonüberwachung" noch nicht umgesetzt, wird aber auch kommen. Die EU hat die Einführung eines "Ambient Noise Recordings" zwischenzeitlich mandatiert, die Umsetzung ist also vorgeschrieben und neben Deutschland bereiten sich nun auch alle anderen Länder auf die Umsetzung.
Die scheint gar nicht so einfach zu sein. Bei zahlreichen Feldversuchen wurde laut DFS die besondere Situation in einer Kontrollzentrale untersucht. Dort sind immer viele Stimmen gleichzeitig zu hören. Die Aufzeichnung muss also hohen Qualitätsansprüchen genügen und vor allem ermöglichen, im Nachhinein die Stimme eindeutig einer Person zuzuordnen.
Gedenkfeier wird zum Politikum
Dass die Katastrophe die Gerichte und Institutionen so lange und nachhaltig beschäftigen sollte, war in den Tagen nach der Kollision natürlich zunächst einmal nebensächlich. Damals suchen mehr als 1000 Einsatzkräfte nach den Todesopfern, darunter mehrere Dutzend Schulkinder. Sie stammen aus der Stadt Ufa in der russischen Teilrepublik Baschkortostan - und wollten zwei Wochen Urlaub in Spanien machen.
Noch bevor alle Toten gefunden und identifiziert sind, reist eine russische Delegation an den Bodensee - auch um an einem der größten Wrackteile zu trauern. Zur Betreuung der Hinterbliebenen melden sich zahlreiche Menschen aus Überlingen und Umgebung freiwillig. Die Begegnung mit den Angehörigen prägt einige von ihnen so sehr, dass sie später den Verein "Brücke nach Ufa" gründen, um den Austausch nach Russland aufrechtzuerhalten.
Kurz vor dem 20. Jahrestag des Unglücks ist es schwieriger denn je, die Kontakte nach Russland zu halten. Wegen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine entwickelt sich auch um die geplante Gedenkveranstaltung zur Flugzeugkollision in Überlingen eine politische Diskussion.
Das Gedenken sei dadurch "unter anderen Gesichtspunkten zu beurteilen", sagt ein Sprecher des baden-württembergischen Staatsministeriums. Die Hinterbliebenen seien zwar willkommen, "allerdings organisieren und bezahlen wir nicht die Anreisen, wie auch bei vergangenen Gedenkveranstaltungen".
Russische Staatsvertreter seien zum Gedenken am Bodensee mit Schweigeminute und Kranzniederlegung nicht eingeladen, teilt die Stadt Überlingen als Veranstalter mit. Die Hinterbliebenen heiße man aber willkommen. Der Wunsch nach einem Gedenken sei "angesichts der dramatischen Ereignisse damals wichtig und nachvollziehbar".
Die Vorsitzende des Vereins "Brücke nach Ufa", Nadja Wintermeyer, geht davon aus, dass etwa 40 Angehörige aus Russland an der Veranstaltung teilnehmen werden. Dem Verein liege eine Zusage des deutschen Konsulats in Jekaterinburg vor, dass die nötigen Visa erteilt würden. "Wir danken allen, die das trotz der schwierigen politischen Lage ermöglicht haben", sagt Wintermeyer. Der Verein wolle den Hinterbliebenen verbunden bleiben. Das bleibe "auch angesichts des völkerrechtswidrigen russischen Angriffs auf die Ukraine weiterhin wichtig", betont eine Sprecherin der Stadt.
Auch Polizeidirektor Hans-Peter Walser, seit Ende 2003 im Ruhestand, haben die Begegnungen mit den russischen Hinterbliebenen geprägt. "Von denen kann man lernen, was Dankbarkeit heißt und wie man sie zeigt", sagt der heute 78-Jährige. Bei der Beschreibung eines Treffens mit Elternvertretern aus Baschkortostan kämpft er mit den Tränen - selbst 20 Jahre später. "Das war so ergreifend. Das waren sehr berührende Begegnungen." Das Gedenken am 20. Jahrestag wolle er nutzen, um zu einigen Hinterbliebenen wieder Kontakt aufzunehmen, sagt Walser. "Dieses verständnisvolle Miteinander darf nicht in die Brüche gehen."