Nichts ist mehr, wie es war, seit die sozialen Netzwerke und andere Internet-Angebote die Herrschaft über große Teile zumindest der jüngeren Menschheit erlangten. Rund eine halbe Milliarde Menschen nutzen täglich Facebook, mehr als 60mal so viele wie die rund acht Millionen, die pro Tag in ein Flugzeug steigen. Trotzdem hat die Flugbranche die Entwicklung bisher weitgehend verschlafen. Oft scheinen Airlines oder Flughäfen allenfalls ein paar Praktikanten hinzusetzen, die dann Facebook-Seiten füllen oder Tweets absetzen. Entsprechend dürftig sind dann auch die meisten Angebote der Branche, zumindest in Deutschland.
Dabei gibt es genügend Beispiele, wie die neuen Möglichkeiten im Internet auch hochmögende Mega-Airlines manchmal im Nu vor einem Millionenpublikum der Lächerlichkeit preisgeben. Und dagegen kann dann selbst die größte PR-Maschinerie wenig ausrichten. Bestes Beispiel: Das YouTube-Video „United breaks guitars“, im Juli 2009 eingestellt und bis Anfang dieser Woche genau 11.590.901 mal angeklickt. Der kanadische Musiker David Carroll war damals unterwegs zu einem Auftritt mit seiner Band und beobachtete entsetzt durch das Kabinenfenster, wie Vorfeldmitarbeiter seinen Gitarrenkoffer mit dem teuren Instrument durch die Luft warfen. Später kam die Gitarre dann natürlich kaputt ans Ziel – und United zeigte ihrem Kunden die kalte Schulter. Das hätte sie nicht tun sollen – denn Carroll rächte sich mit dem anklagenden, sehr unterhaltsamen Video, dass sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. Und United zum Handeln zwang, man einigte sich auf eine saftige Spende der Airline.
Letzte Woche war ich auf der Hamburg Aviation Conference, einer früher manchmal etwas verschnarchten Wissenschaftler-Tagung. Doch diesmal war alles anders – denn im Mittelpunkt standen die neuen Möglichkeiten der Luftfahrt im Netz. Referenten vor allem aus Amerika öffneten den anwesenden Airlinern die Augen: 65 Prozent aller Menschen unter Ende 20 seien weniger als eine Stunde pro Tag offline. Die neuen Technologien seien für sie wie für Fische das Wasser – sie sehen sie gar nicht mehr, sie nehmen sie als völlig selbstverständlich hin. Die Nutzer gehörten zur Generation „FUBU“ – „For You, By You“. Will sagen: Die Leute wollen nicht fertige Produkte vorgesetzt bekommen, sondern selbst etwas Individuelles für sich erschaffen können rund um ein Produkt. Sich in dieser Weise zu engagieren sei überlebenswichtig für die Zukunft der Airlines, appellierte ein Referent an die Zuhörer.
Manche fangen damit gerade an, immerhin. KLM startete im Februar eine Testphase ihres Programms „Meet & Seat“. Wer sich dafür registriert, kann sein Facebook- oder LinkedIn-Profil mit seiner Buchung verknüpfen und sich einen interessanten Sitznachbarn aussuchen. Bisher nur auf ausgewählten Strecken. Für diese Woche standen zum Beispiel auf der Route Amsterdam-Sao Paulo folgende Kandidaten zur Wahl: Der Direktor eines englischen Anrufbeantworter-Dienstes mit Vorliebe für Reggae und Jazz, ein italienischer Chemieingenieur, der flüssig Niederländisch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch spricht, sowie ein Alternativ-Rock-Fan aus Norwegen auf dem Weg zu einem Familienbesuch in Argentinien. Auch wenn nicht für jeden der Traum-Nachbar darunter sein mag – es ist doch schon mal ein Ansatz, den Flug interessanter zu machen, als sich nur mit dem üblichen Smalltalk aufzuhalten, wenn überhaupt.
Es gibt nämlich kaum etwas so Entscheidendes für das Gelingen eines Fluges wie den richtigen Sitznachbarn. Das kann natürlich auch nach hinten losgehen – etwa wenn der Finanzinvestor neben einem Startup-Unternehmer zu sitzen kommt und der ihm stundenlang das Ohr abkaut. Gut dass man sich bei „Meet & Seat“ auch heimlich online wieder aus dem Staub machen kann vorab, wenn einem der Mensch nicht behagt, der den Nachbarsitz reserviert hat. Andere Airlines setzen auf den gegenläufigen Trend: Air Asia X, Air New Zealand und Vueling halten gegen Gebühr den Nebensitz frei, wenn der Flug nicht voll ist.
Ich jedenfalls hatte trotz jahrzehntelangen Reisens erst einen Volltreffer auf dem Nachbarsitz: Bei der Deutschen Bundesbahn damals, im IC-Großraumwagen, saß ich fälschlicherweise auf ihrem Platz. Wir unterhielten uns dann sechs Stunden, später wurde sie eine gute Freundin und ich konnte ihre Wohnung in München übernehmen, fast wie ein Lotteriegewinn. Niemand führt eben so gut Regie wie der Zufall, auch kein soziales Netzwerk.